Kapitel 6, Vers 41/1

Die Klugheit rät: Achte darauf, daß fremde Augen nicht wahrnehmen können, was im Verborgenen bleiben muss und besser auch der eigenen Wahrnehmung entzogen bleibt. Fremde Augen könnten die Störungen bei einem selber sehen.

<Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge - des Balkens in deinem Auge wirst du nicht gewahr?>

Im Auge des Andren wird der Splitter zum Balken, im eignen Auge wird noch nicht mal der Splitter bemerkt. Nicht mit der Korrektur des falschen Sehens im fremden Auge und seines Ungenügens soll die eigene Tätigkeit ausgefüllt sein, sondern mit der Mühe, die Behinderung und Beschränkung im eigenen Wahrnehmen zu erkennen - um zu einem Sehen zu kommen, das den Mitmenschen wahrnimmt, nachdem die Selbstwahrnehmung gelungen ist.

‚Siehst du?’ wird immer wieder gefragt. Der Mensch sieht nicht in die Wirklichkeit eines andren Daseins. Die Nachfolger des Meisters erkennen die Beschränktheit ihres Sehens, und geben damit zu, daß es großer Mühe bedarf, zum nicht- verfälschten Sehen und Wahrnehmen zu kommen. Auch davon gilt: Wenn ihr wollt, daß die Mitmenschen euch richtig sehen sollen - dann:... Ein Mensch weiß zu gut, daß in den Augen der Andren sein Leben falsch gesehen wird.

Auch im Blick auf seine Sendung erwartet Jesus richtiges Sehen. ‚Meister’ in der Kunst des richtigen Sehens werden verlangt und Vollkommenheit gefordert in der Wahrnehmung der Unvollkommenheit des eigenen Sehvermögens. Es gibt einen Zusammenhang mit den Warnungen Jesu vor dem Urteilen, Richten und Verdammen. Es gehört zur Schuld, die eingestanden werden muss: ‚Wir haben es nicht so weit gebracht, daß wir richtig sehen konnten.’ Es bedeutet deshalb viel, wenn ein Mensch zum andren sagen kann: ‚ich sehe dich - in deiner Andersartigkeit.’

Diejenigen, die auf ein Leben hinsehen oder auf es herabsehen, müssen sich selber gefragt wissen auf das hin, was sie sehen. Jedes Ich muss sich selber fragen, was andere von seiner Wirklichkeit wahrnehmen. Besser ist es, sich vor fremden Blicken zu schützen, denn sich zu erkennen geben, würde vom Sehen des Andren zu viel verlangen. Jeder weiß, daß der Blick der Andren verdunkelt ist, um des Hindernisses willen, das jeder im Auge trägt.

Es geht um die Handlungen, die der Einschätzung des Mitmenschen folgen. Niemand sollte mehr sagen: ‚Halt still, Bruder!’ ‚Ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen!’ Das ist schon eine Frucht, die von einem faulen Baum genommen wird, wenn einer Gutes tun will um des Fehlers im Andren willen, um zu berichtigen, ohne sich eigener Fehler und Unvollkommenheit bewusst geworden zu sein.

Aufmerksam muss ein Leben werden, wenn eine Stimme sagt: ‚Halte still!’ Es ist leicht zu sagen. ‚Halte still!’ ‚Ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen’, ohne daß der Helfer selber die Erfahrung machen mußte, angesehen zu werden von Augen, die ohne Fehler und ohne jede Störung ‚Splitter’ und ‚Balken’ im eigenen Auge durchschauen können und den Blick nicht abwenden, wenn ein Ich zurückstarren und drohen möchte. Es ist nicht mehr nötig, im Gegenüber nach den Fehlern zu suchen, die der Hindernisse im eigenen Auge Rechtfertigung wären.

Deutlich steht vor aller Augen die Forderung. ‚Seht! - seine Augen warten auf euch!’ Davor fürchtet sich das menschliche Leben. Aber seine Worte leuchten erst, wenn die Wahrheit im eignen Leben sichtbar geworden ist, nachdem die Behinderung genommen ist und dann auch die Wahrheit im Leben eines Mitmenschen zu erkennen ist. Ein Glaube muss zunächst diese Leistung erbringen. Allen Nachfolgern steht das Einsehen in die Falschheit des eigenen Sehens als Aufgabe bevor.

‚Mensch, ich lehre dich!’ kann einer nur noch vor Augen sagen, die wissen, daß ein Sprecher von Gotteswahrheit selber in Schwierigkeiten ist, wenn er sagen will: ‚Bruder, ich lehre dich’! Ein Meister in der Vollkommenheit wird zugeben, daß die Menschen, die nach ihm sehen, mit Recht einen Menschen erwarten dürfen, dessen Sehen kein Böses mehr hat.

nach oben