Kapitel 18, Vers 9/1

Das Erscheinungsbild läßt keinen Schluß zu auf die innere Gestalt. Im Verborgenen bleibt der immerwährende Fluß des Betens. Manchmal tritt es an die Oberfläche. Jesus hat es wahrgenommen. Auch ein Frommer sieht nur das, was vor Augen ist - und was er zu bemerken imstande ist: 'Ich bin nicht wie die andern Leute!'

Frömmigkeit ist ein Zeichen der Unterscheidung. Er hat Recht, der Fromme, er ist nicht wie andre Leute. Jesus hat auch zugegeben, daß einer angenommen wird, ein andrer verworfen wird. Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, der Zöllner, der ihm ein Ärgernis darstellt, sind zu erkennen in ihrem Anderssein. Es gibt auch andre Merkmale der Unterscheidung. Ob es in dem Andren betet 'allezeit', ist nicht zu erkennen. Die Frömmigkeit versucht nicht, es zu erfahren. Der fromme Mensch ist befaßt mit seinem Beten und sucht nicht nach einem Zugang zu der inneren Welt der fremden Gestalt. Er sieht auf sein eigenes Tun. 'Ich faste, ich gebe: ICH –²

Auch auf dem Sünder liegt die Last, daß er nicht so ist wie andre Menschen, wie fast alle Menschen erscheinen. Er gehört als Sünder nicht zu den Auserwählten. Er ist im Unrecht.

'Gerechtfertigt ist dieser, nicht jener' urteilt Jesus. Der, der vorne steht, legt auf sein Urteil keinen Wert, er sieht nicht die Gerechtigkeit darin. Der allgemeinen Meinung nach gehört Jesus eher zu den 'andren' Leuten, zu den Ungerechten, zu denen auch, die Verwerfliches zum Beruf gemacht haben.

Verborgen, unsichtbar, fließt ein Strom des Betens, trägt Bitten, Flehen, das Rufen nach Erbarmen und Angerührtsein. Aus vielen Rinnsalen ist der Strom gespeist, genährt von Bitterkeit und den Klagen, die aus dem Elend kommen: Ein Fluß heimlichen Weinens um verlorene Lebendigkeit, um nicht geratenes Dasein. Erfüllung war versprochen.

Von einem Gut hatte Maria gesungen, mit dem die Leere gefüllt werden soll. Worte nur zeigen an, daß eine Seele rief: 'Schaffe mir, Gott, Recht vor meinem Widersacher!' Worte weisen auf Frömmigkeit hin: <'Gott, sei mir Sünder gnädig!') Er sah nicht auf die Andren hin. Die Frau suchte nach jemandem, der sich ‚nicht vor Gott fürchte noch vor keinem Menschen scheue.' Sie selber fürchtete die Menschen und hatte selber auch Angst vor Gott Sie suchte nach jemandem, der ihr Schutz gewährt.

Sie mußte: 'Bitte!' sagen, war zum Betteln gezwungen. Der Richter hatte Abgrenzungen um sich, die ihn vor den Andren schützten, damit er keinen Menschen zu scheuen brauchte. Niemand kam an ihn heran. Nur das Begehren, das aus der bedrängten Frau sprach, durchbrach seine Grenzen und überwand die Sicherungen gegen den Strom des Begehrens nach Gerechtigkeit und Wahrheit und Hilfe.

'Mehre uns den Glauben!' haben die Jünger gesagt. 'Stärke unsre Aufmerksamkeit für den Fluß des Betens in uns.' 'Es ist in euch - das Reich Gottes!' hat er gesagt.

'Wo?' fragen Menschen, die in ihren Rechten sicher wohnen und das Bitten nicht nötig haben. 'Wo!' sagen die Menschen, die das Erbarmen nicht brauchen und auch nicht zuwenden da, wo es notwendig wäre.

'Wo?' Mitten unter euch!' ist die Antwort.

<'Alles, was ihr wollt, daß euch die Menschen tun, das tut ihr ihnen!'> war eine seiner Aussagen, die denen ein Recht zusprechen, die 'Bitte!' sagen müssen. Werden sie einmal Antwort und Gehör finden? In Kürze - oder in -weiter Ferne - hinter Horizonten verborgen, die sie nie überschreiten werden: so weit wie sie wandern müssen oder erst dann, wenn sie ihre Seele verlieren und ihr zum Leben verhelfen.

'Mitten unter euch!' geschieht das alles.

Zwei sind im Tempel. Der eine ist verworfen, der andre wird gerechtfertigt. Der eine spricht die Wahrheit seines Lebens aus, als Dank, den er anbietet und wofür er Dank erhofft dafür, daß er nicht sein muß wie die anderen Leute. Nicht wie die anderen Leute muß einer sein, der vor Gott hintritt, in seinem Tempel um zu beten. Aber er muß auch nicht sagen: 'Schaffe mir Recht vor meinem Widersacher!' Es gibt keinen Widersacher, der sein Recht streitig macht oder nach seinem Leben oder nach seiner Seele steht. Er sucht danach, seine Seele zu erhalten und kann deshalb nicht sein wie die andren Leute.

Der Andre steht von ferne.

Auch im Heiligtum steht der Widersacher einer Seele vorne, sichtbar, erhöht, und darf herabsehen auf einen, der nichts gilt Der eine wird angenommen, der andre geht verloren.

Der Andre besitzt keine Anschuldigungen, die er abladen könnte. Er schlägt sich selber, die Lasten seines Daseins schlagen auf ihn selber zurück. Sein Recht ist verdorben, seine Seele schon verkommen und verloren. Er ist der andren nicht mehr gewahr. Er ist bei sich selbst und bei dem Gespräch seines Herzens mit Gott.

'Herr, gehe vor mir hinaus!' hatte der Mann gesagt, der ihm dann mit den andren nachfolgte. 'Ich bin ein sündiger Mensch!' hatte er gesagt. Er war nicht mehr zurückgekehrt in den Alltag, er hatte alles hinter sich gelassen. Er ist mitgegangen, damals, als alles anfing.

'Wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden' hat Jesus gesagt und daran geglaubt. Aber das ist nicht die Regel unter Menschen. Der Himmel hat seinen Blitz noch nicht über die Erde und die Menschengeschichten hinfahren lassen, der alles ins Licht getaucht hätte.

'Gott urteilt', sagen Menschen, 'Gott nimmt an und verwirft', sagen sie, aber in Wirklichkeit, nicht erhellt von dem Blitz, der vom Himmel zur Erde fährt, urteilen und verurteilen die Menschen anstelle ihres Gottes.

Tag und Nacht rufen, ein Beten allezeit - das ist der Ausdruck des inneren Tuns des Jesus. Das ist der Glaube, nach dem er fragt, ob des Menschen Sohn diesen Glauben findet. Jeder wird gefragt werden, ob der Glaube solches tut.

Der Weg führt nach Jerusalem.

Dort wird sich entscheiden, ob Gott Recht verschafft seinem Auserwählten: <Wer sich selbst erniedrigt - der wird erhöht>. Es wird sich erweisen, ob es ein Rechtschaffen vor den Widersachern gibt, Hilfe und Schutz vor dem Widersacher, der dem Leben entgegensteht.

Die Frau hängte ihr Herz an das bißchen an Recht, das ihr unter den Menschen zustehen müßte. Nicht ihr Fall machte dem Richter Mühe, sondern sie selber machte sich ihm zur Last, hängte sich an ihn. Er war nicht ihr Freund, zwischen ihnen war kein Band. Er scheute, was auf ihn eindringen wollte.

Aus den Finsternissen des Vergangenen rufen verlorene Seelen, die ihre Seele nicht bewahren konnten und vergeblich baten in allen Sprachen der Welt: 'Recht vor den Widersachern!'

Wütend hatte sich Jesus hinreißen lassen zu seinen Ausbruch: <'Besser einen Mühlstein um den Hals und ersäufen.'>

Da war er ungerecht, aber doch ein Richter, der bedrängt wurde durch die Stimmen, die lauten, die ganz stillen, die unhörbaren.

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