Kapitel 5, Vers 17/1

<Mensch! Deine Sünden sind dir vergeben!> hat Jesus gesagt. ‚Mensch!’ hat er gesagt.

Er kam zurück aus der Wüste und sah den Anderen an und sagte: ‚Mensch!’ zu ihm. Er hatte die Traurigkeit im anderen Angesicht gesehen. Und er sagte: Mensch! - als riefe eine Stimme aus einem verlorenen Paradies: ‚Mensch! Wo bist du?’ ‚Mensch, höre!“ ‚Mensch antworte, gib doch endlich Antwort! Mensch!’ Wenn die Worte nicht ausreichen und die Stimme sich versagt, schreit ein Lebewesen, das sich verloren sieht, wenn das Dunkel über ihn herfällt?

Solange noch ein Erwarten ist, daß das Angesicht sich über einen neigt, wird auch das Wort seine Kraft erweisen, wenn es einem zugesprochen wird: <Deine Sünden sind dir vergeben!>

Da brach die Zuversicht der Anwesenden zusammen wie ein Kraftfeld zusammenbricht, wenn ihm die Zufuhr abgeschnitten wird. Einem Mitmenschen sollte geschehen, was sich die Erwartungen nicht mehr zugestehen wollten bei den Erfahrungen, die sie gesammelt hatten: in einem selber hatte es darauf gewartet, daß die Sünde einem abgenommen wird, daß der Mensch angesehen wird und daß endlich Frieden wird.

Über ihrer Geschichte stand: <Es ist ein beraubtes und geplündertes Volk; sie sind zur Beute geworden und es ist kein Erretter da!> (Jes 42) Das muss einer wissen, wenn er sie ansieht.

Jeder unter ihnen hat aber Anteil an der Gabe, das Gute zu erkennen und um das Böse zu wissen. Jeder kennt Schuld, auch wenn er sie bei sich selber nicht anerkennt, empfindet Scham vor dem Angesicht, das einen von allem Anfang an angesehen hat. In diesem Augenblick erkennt der Kranke in dem Angesicht, das sich über ihn neigt, daß diese Augen auch alles gesehen haben und nun die Zeichen und die Spuren in seinem Gesicht und auf seinem Körper sehen.

Der leidende Mensch hat oft in die Gesichter der Menschen gesehen, aber es ist nicht auf ihn zugekommen, das Angesehenwerden in Freundlichkeit. Augen sind sich kurz begegnet und haben abgeschätzt, was sie sehen: ‚Wer bin ich denn - und wer ist denn der, daß der mich so ansieht?’

In der Abwehr vor fremden Blicken ist die Furcht mühsam unterdrückt, daß Verborgengehaltenes sichtbar werden könnte, bei den Menschen ihres Volkes und gegenüber den Völkern um sie her. Zu gut weiß jeder, daß es heißt: <Herr, wenn du Sünden zurechnen willst, wer wird bestehen? Denn bei dir ist die Vergebung, daß man dich fürchte!> (Ps 130)

Glauben war zusammengebrochen, als ihnen aufging, daß der Augenblick der Vergebung erst die Furcht und die Angst offenlegt, die in der Tiefe des Lebenden lauern.

Vielleicht waren es doch nicht so viele, die gekommen waren aus Galiläa und aus Judäa und von Jerusalem, wie sie dann später davon berichtet haben jenem Lukas, der danach fragen kam, wie es wirklich gewesen war. Aber sie haben zuhören können und brachten den Worten Verständnis entgegen.

Sie wussten, daß die Lehre nötig ist, damit die Furcht nicht ausbricht und weil das Wissen der Lehre hilft, auf Gott zu trauen, der Sünden vergeben will, weil Menschen nicht genötigt werden können, Sünden zu vergeben.

Unter Menschen will keiner dem Anderen zugestehen: „Ich habe in deinem Angesicht das Angesicht Gottes gesehen!“

Die Stimme hörte nicht auf mit ihrem Verheißen: ‚Ihr werdet wissen, was das ist, das Böse, das Gute!’ Es war hineingegeben in ihr Inneres, das Wissen. Und nur noch bei Gott stand das Vergeben. Und das Leben starb seine Tode und verlor seine Lebendigkeit.

Vor ihnen stand: ‚Es ist zu leicht, einfach zu sagen: ‚Deine Sünde ist dir vergeben!’ Selbst wenn einer aufstehen konnte und gehen konnte, so ging er doch auf seinen alten Wegen und behielt das gleiche alte Herz.

Nichts konnte geschehen, was einen erlösen konnte, vor allem konnte kein Wort einen lösen aus den Schicksalen, die alle an Schuld trugen und an der Sünde teilhatten. Es gab nur das Wort der Schrift und die vielen Gedanken, die sich darum gesammelt hatten. In der Stadt gab es den Tempel. Alle Völker der Welt gaben sich Mühe, dem Fürchten und der Angst eine Welt von Handlungen und Opfern und Altären und Tempeln entgegenzusetzen. Es wurden Gebete gehalten und Worte gemacht, weil kein Mensch dem anderen die Sünde vergeben kann.

Niemand kann Sünden vergeben, außer Gott! Es hatte so lange gedauert, bis sie das begriffen hatten. Ungeheuerlich mußte Gott sein, der Sünde vergeben wollte, begabt mit einer Kraft, die vergeben kann, was an Bösem geschehen ist.

Aber so ungeheuerlich und voller Kraft ist niemand unter den Menschen, daß einer von ihnen vergeben könnte oder auch nur tragen könnte, was an Bösem geschehen ist und fortwährend geschieht. Es ist noch nicht einmal zu ertragen, wenn dem andren vergeben würde und einer könnte es auch nicht ertragen, wenn ihm selber vergeben würde. Die Furcht vor dem Offenbarwerden würden einen vernichten.

Wenn Jesus aber mit Recht gesprochen hätte, dann würden viele zu einem sagen können: ‚Willst du, so kannst du mir vergeben!’ Dann könnten viele erwarten, daß das Angesicht, das vor einem ist, einen freundlich ansieht und dem Erwartenden zugewendet ist. Aber so viel an Wollen kann niemand haben.

Leicht erscheint es, einfach zu sagen: ‚Deine Sünden sind dir vergeben!’ Der andre ist auch nur ein Mensch wie man selber und möchte hören, was er doch nicht erfahren kann. In Wirklichkeit ist es in allen durch Glaube geheiligten Handlungen nur eine Gewissheit durch Menschenmund, daß Gott Sünde vergibt.

Dann hat er gesagt, daß sie es wenigstens wissen sollten, die dabei gewesen sind, daß <des Menschen Sohn Vollmacht hat, auf Erden Sünden zu vergeben!>

Still ist es geworden.

Einige haben erfahren, was es ist. ‚Damit wir dich fürchten, Gott!’ Aber zu fürchten sind die Menschen und was in Menschengesichtern sich dem anderen Gesicht zuwendet, auch wenn sie sagen: ‚Dir sind deine Sünden vergeben!’

Aber er weiß, was sie heimlich denken.

Er will ihre Antworten: Was ist leichter, zu sagen: ‚Dir sind deine Sünden vergeben’ oder zu sagen: ‚Stehe auf und wandle!’

Er weiß, was sie denken. Auch das ist leicht, zu sagen: ‚Stehe auf!’ Aber würde der andre Mensch auch antworten können?

Das Wort würde nur Rede sein und nichts bewirken. Und alle sehen auf den Menschen, der am Boden liegt und warten darauf, daß Jesus das Wort sagt, das keine Wirkung haben kann.

Da spricht er: Ich sage dir: stehe auf!’ Die Worte schwingen nach in ihnen, Worte, die in ferne Anfänge greifen, kehren zurück, in diesen kleinen Raum, zu einem von ihnen:

„Es werde Licht! Du, Mensch! stehe auf!“ Die Vollmacht des Schöpfungsanfanges erreicht sie in der Ohnmacht ihres Daseins, und vor ihren Augen steht ein Mensch auf, gehalten und geleitet von den Augen des Menschensohnes, der ein anderes Angesicht über sich gesehen hatte.

Sie wurden voll Furcht! Das Entsetzen griff nach ihnen, weil die Kraft sie berührte, offen war der Abgrund, über dem sie sich geschützt glaubten. Angst stieg in ihnen auf, erwachen zu müssen, in ihrem Begehren nach Erlösung und nach dem freundlichen Angesehenwerden.

Aber wenn Menschen erst offenbar werden und Sünde vergeben werden muss, kann sich niemand mehr schuldlos glauben. Die wissenden Augen eines Mitmenschen sind kaum zu ertragen und den Augen Gottes hält niemand stand. Die Ausrede kommt ihnen zu rasch von den Lippen, daß Gott allein Sünden vergibt, wenn der Weg noch weit ist bis dahin, wo es keine Flucht mehr gibt vor dem Angesicht, vor dem die ganze Wirklichkeit offenbar sein wird.

Jesus legte es darauf an, daß sie in dem Leidenden auch das Bild ihrer selbst sehen. Diesem Kranken wird geholfen. Wenn erst das eigene Selbst vor Gott erscheint in seiner missratenen Gestalt, kann sich niemand mehr sicher sein, daß Gott Sünden vergibt. Ihre Zustimmung herausfordernd, maßt sich Jesus eine Fähigkeit an, über die nur Gott verfügen kann.

„Wer ist der, daß er Gotteslästerungen redet?“ denkt es in den Hörern. Wer das Menschliche kennt, muss sagen: „Niemand kann Sünden vergeben!“ Kein Mensch vergibt dem anderen die Sünden und niemand wartet darauf, daß ihm von anderen Sünden vergeben werden. Sie können einander nicht ihre Schuld vergeben. Niemand glaubt, daß einer dem andren die Sünde vergibt. Die Menschen schlagen die Augen nieder. Jesus lästert. Aber aus einem Dasein ist die Sünde und die Finsternis genommen, der Schrecken und die Angst.

Die Anderen bringen nicht die Vollmacht auf, um einen der Ihren anzunehmen und das Geschehene zu bestätigen. Mit ihrem Glauben und Wollen, daß er heil sei, hätten sie ihn tragen müssen. Einer, der sichtbar nicht gehen konnte und geschlagen war, stand auf vor ihren Augen und sie gewahrten: ‚Einer von uns ist aufgestanden und kann gehen!’ Das verursachte Entsetzen erleichtert sich in einem Lob, das die Furcht nicht unterdrücken kann. Wenn das Entsetzen weicht, schwindet auch das Loben. Die Furcht bleibt. Das Fragen bleibt auch: ‚Wenn einer, der so krank gewesen ist, gesund und heil werden kann, was ist dann mit uns, die wir gesund sind?’

‚Was soll aus denen werden, die dazu bestimmt sind, das gesunde Leben zu seinem Ziel hinfinden zu lassen?’ Sie denken in ihren Herzen: ‚Gott kann Sünde vergeben’! Sie selber können es nicht, und deshalb halten sie die Worte und die Schrift in Ehren! Das Warten im Mitmenschen haben sie nicht angenommen und die Erwartung in sich selber merkten sie nicht.

Einmal hatte die Stimme gesagt: <Die Sünde lauert und nach dir hat sie Verlangen.> Bevor das Ungeheure das Eigene zerreißt, fällt der Mensch über den Menschen her, weil er sein Bruder ist und ihm schuldet, für ihn ein Opfer zu sein. Er selber erträgt es nicht, selber ein Opfer zu werden. Auf eine andere Weise müssten sie in dem Angesicht des Opfers nach dem Angesicht suchen, das ihnen freundlich ist.

Aber sie gehören nicht zu den Menschen, in deren Herzen es sprechen möchte: ‚Ich vergebe Dir deine Sünde!’

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