Das Wort der Schrift war einmal gesprochenes Wort, wirklich in dem, wie es gesprochen wurde, als es erlebt und gehört worden ist. Ausdruck war es der Lebenden, verband untereinander im Austausch, machte das Miteinander möglich.
Sprechen hat seine eigenen Regeln, setzt Gegenwart, verbindet Gegenwärtigkeit mit Vergangenem, das Vergangene mit Zukünftigem. Sprechen schafft sich eigene Wirklichkeiten. Eigene Wirklichkeit erschuf sich die Kunst der Schrift, ersetzte die Gemeinsamkeit von Sprecher und Hörer, ließ einen andren Austausch zu, machte Vergangenes sprechen, brachte zur Sprache, wo kein Sprecher mehr war, wo kein Hörer mehr lebte, um zu hören und Antwort zu geben. Die Schrift braucht den nicht mehr, der einmal ein Sprecher war und die Schrift geschrieben hat, kennt den nicht mehr, der dem Schreiber Widerstand entgegensetzte oder ihm widersprochen hatte.
Gesetze brauchen Schrift, Schrift ist nötig für Worte, die nicht verloren gehen sollen im Lauf der Zeit. Solange Menschen sind, die die Sprache der Schrift lesen können, spricht die Schrift weiter. Selbst wo kein Sprecher mehr ist, kein Hörer mehr hören kann, bleibt das Zeugnis der Schrift, kann zu Spruch und zum Einspruch werden, wenn nur jemand ihr das Offenbare des Wortes zu entnehmen weiß.
Das Sprachvermögen der Lebenden macht die Schrift zum Gedächtnis der Geschichte, gewährt Zugang zum Verständnis des gelebten Lebens, der Grundlage des als gegenwärtig Gelebten. Schrift offenbart, verschweigt auch, verleugnet sogar, wenn andre Zugänge zu den Wirklichkeiten des Lebens und Erlebens keinen Niederschlag in der Schrift gefunden haben. Der Schreiber war sich vielleicht nicht der Wichtigkeit bewusst, was mitzuteilen notwendig gewesen wäre.
Das Sprechen der Vergangenen im Miteinander ist nur noch zugänglich im überlieferten Wort, wenn das gesprochene Zeugnis schon aufgehört hat, sich von Mensch zu Mensch, von Geschlecht zu Geschlecht vermitteln zu lassen. Es bleibt die bloße Sage oder die Zeichen, die wie in den Staub geschrieben waren von einem, dem es auch ernst war mit seinem Erfahren, Denken, Sprechen und sich Mitteilen.
Als bleibendes Gedächtnis bleibt die Schrift; es sei denn, die Steine schreien - oder die Erde tut ihren Mund wieder auf zum Zeugnis gegen die Lebenden.
Das kommende, das zukünftige Reich und seine Herrlichkeit hat seine Sprache, hat seine Schrift; ein neues Gesetz hat seine Schrift und drückt allem seine Prägung auf, läßt alles seinen Stempel tragen. Eine alte Schrift sinkt zurück, ist in der Gefahr, unterzugehen mit denen, deren lebende Sprache sie ist.
In Völkern, in denen es keine geschriebene Geschichte gibt, trägt die Erinnerung das Gedächtnis weiter, wird weitergereicht an Kinder und Kindeskinder, ist gesprochenes Vermächtnis, solange die Erinnerungen nicht abreißen, das Gedächtnis nicht verloren geht. Tempel, Städte, Völker sind untergegangen, vergessen in den Staub der Geschichte gesunken, sprechen nur noch in ihren Resten. Wo keine Schrift erhalten ist, sind mit den Menschen auch die Götter versunken, sprechen nicht mehr. Ein Abgrund hat alles verschlungen. Keine Schrift ist zur Stellvertretung geworden.
In einer andren, in einer neuen Sprache lautet es: ‚Gott hat gesagt! Gott spricht!’ Der Zweifel fragt, ob Gott auch in der Sprache andrer Völker spricht und ob sich sein Wort darin ausdrückt. Im Gewand einer anderen Sprache und in einer anderen Schrift bewirken die Worte Gottes und die Worte der Überlieferung ein anderes Verständnis. Eine andre Sprache wird zum Gefäß, um zu fassen, was kaum von den Menschen der alten Sprache erfasst wurde und in ihrer Schrift gefasst blieb, treu bewahrend, was übrigblieb, aufgeschrieben, sodass es nicht verloren ging.
Lukas, ein Zuhörer und ein Schreiber, spricht in einer anderen Sprache, schreibt in andren Zeichen.
In Stellvertretung redet die Schrift: wenn Gott ‚spricht’, dann ist das ein Sprechen durch das Mittel der Schrift. Das Mittel der Schrift spricht nicht, ihre Zeichen müssen erst zur Sprache gebracht werden. Erst im Lesen findet sich der Zugang zum: ‚Es spricht!’
Gott selber spricht nicht mehr. Wenn es heißt: ‚Gott spricht!’, dann spricht die Schrift. Gott selber redet nicht mehr, sodass es einer hören könnte, damit jemand standhalten müsste im Hören, im Antworten: dem Wort - und dem Gegenüber, von wo das Wort herkommt.
Den Schein des Unwirklichen hat die ‚Schrift’. Die Schrift selber gewinnt Autorität. Ursprünglich war das Wort Gottes nicht versteckt hinter Schrift, verborgen hinter Schriftzeichen, die auf den Urheber zurückweisen, der dem Lebendigen die Sprache gab wie das Leben selber.
Die Schrift dient dazu, nach dem Wirklichen, nach dem Sinn, nach der Wahrheit greifen zu können, damit der Grund des Glaubens zur Erscheinung, zur Darstellung und zur Sprache kommen kann. In der ‚Zeichenwelt’ soll sich ‚wirkliche Welt’ erschließen lassen. Die Schrift tritt an die Stelle der Wirklichkeit, repräsentiert, was lebendiges Sein war, das selbst nicht mehr gegenwärtig ist. Die Schrift verselbständigt sich in einer eigenen Ordnung, die, vom Lebendigen getrennt, ihre Bedeutung gewinnt. Das Wort der Schrift trägt das Wort Gottes. Das Wort der Schrift kann nur anrühren, nicht erlösen, solange nicht in einer Tiefe, zu der kein Wort dringt, Erlösung berührt und der Glaube antwortet, der selber aus jener Tiefe kommt, wo der Glaube an das Wort der Schrift das Wort der Erlösung wirkt.
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