Es waren so viele Menschen um sie herum. Sie standen und sahen zu, wie sich ein Bittender vor Jesus hinwarf. Die Frau mußte nur die Scheu überwinden, einen anderen anzurühren. Eine unsichtbare Grenze trennt die Menschen voneinander. Kleidung ist auch eine Abgrenzung, verhüllt und grenzt ab.
Sie sagte zu sich selbst: ‚Wenn ich nur sein Gewand berühren könnte, nur meine Hand auf sein Kleid legen könnte, einmal nur!’ Nur ein einziges Mal müsste sie es tun und ihr wäre, als würde sie ihn selber berühren.
Sehnsucht spricht so, das Bedürfen, einen anderen zu berühren, etwas von ihm zu haben, nur durch die Berührung. Wenigstens etwas von ihm anfassen, worin er gegenwärtig ist für das begehrende und schlichte Anrühren. Wenigstens für einen einzigen Augenblick den Saum seines Gewandes, nur das, was ohnehin über die Erde streift, berühren. Ihr wäre wohl, wenn nun ihre Hand ihn erreichen dürfte. Ein kranker Mensch auch sie, und aus ihr spricht es doch, zusammen mit allem, was keine Sprache hat und doch ein Leben hat und wächst, sich öffnen will und blühen und strahlen: <Du bist schön und prächtig geschmückt! Licht ist dein Kleid, das du anhast!> (Ps 104)
Sie war nur ein Mensch unter den anderen und ihr Kranksein ließ sie den Anderen fern sein und trennte sie von allen.
Aber deswegen konnte sie dennoch sehen, daß es wahr war: <Licht ist dein Kleid, das du anhast!> Zwölf Jahre lang hat sie gelitten, war unter der Menge der Menschen vereinsamt. Für Menschen wie sie galt: <Wenn aber eine Frau den Blutfluß eine lange Zeit hat, über die gewöhnliche Zeit hinaus, so wird sie unrein. Wer davon etwas anrührt, wird unrein.> (3. Mose 12. 15,25)
Wenn ein solcher Mensch einen anderen anrührt, dann geschieht etwas, dann -. Aber es geschah ganz ohne ihr Zutun, weil der Wunsch und das Bedürfen so stark waren. Er hätte es auch gar nicht zu merken brauchen.
Jesus hielt inne, stand ganz still.
Schrecken legte sich über die Frau.
<Wer hat mich angerührt?> sagte seine Stimme. Jemand hat ihn angerührt, wo er sich gerade von der Bitte des Vaters eines sterbenden Kindes anrühren ließ.
Sie denkt, es können doch die Anderen alle gewesen sein. Aber sie fühlt auch, daß alle auf sie hinsehen. Er hätte nicht gefragt, wenn es ein anderer gewesen wäre. Jetzt glaubt sie, daß sich alle Augen auf sie richten. Niemand wird sie anrühren. ‚Wer etwas davon anrührt, der wird unrein!’ Zwölf Jahre lang hat sie daran getragen.
<Jemand hat mich angerührt. Denn ich fühlte, daß eine Kraft von mir gegangen ist.> Jemand berührte ihn, mit einem anderen Berühren, als die gewöhnlichen Berührungen sind.
Die Anderen haben ihn nicht angerührt, nicht so, daß etwas von ihm in sie hätte übergehen können. Es war etwas anderes, mit dem er in Berührung gekommen war.
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