Kapitel 7, Vers 11/1

Es war, als läge wieder die Dürre über dem Land und als hielte der Hunger und die Not alle gefangen, weil der Himmel darüber nicht mehr regnen lassen konnte. Der, der tot getragen wurde, <war der einzige Sohn seiner Mutter und sie war eine Witwe.> Sie konnte nicht mehr erwarten, noch einmal ein Kind zu empfangen und zu tragen. Keine Mutter kann so laut rufen, daß ihr Kind von diesem Weg zurückkehrt; es war alles vorbei.

Ein Toter ist nie wieder zum Leben erwacht. Die Lebenden ertrügen es auch nicht, wenn ein Gestorbener zurückkehren sollte. Viele, die ihr Leben haben, wollen sogar mit ihnen Lebende tot sehen. Man klagt, weil man jemanden verloren hat, an dem das Herz hing, und dann kehrt man ins Dasein zurück und isst und trinkt.

Die Jünger späterer Zeiten werden auch diese Geschichte verwalten im großen Schatz der Vergangenheit. Es wird nicht stören, wenn so viele von ihnen nichts mehr empfinden, weder Schmerz noch Leid beim Anblick der vielen Toten, die herausgetragen oder fortgetragen werden müssen - oder einfach liegengelassen werden mussten.

Vorwürfe gingen ins Leere: <Meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben: Und niemand ist da, der nach ihnen fragt oder auf sie achtet. (Hes 34) ‚Ihr stärkt nicht, ihr heilt nicht, ihr holt nicht zurück - das Starke tretet ihr nieder!’ waren Vorwürfe, die schon ihre Vorfahren gehört hatten.

Jesus berührte die Bahre, auf der der Tote getragen wurde, <und die Träger standen.> Für den Augenblick hielten sie den Atem an. Es waren viele Kinder gestorben, damals und in ihrer Zeit. Sie würden in den kommenden Zeiten auch sterben, kleine, noch grüne Früchte am Baum des Lebens, die herabfielen, bevor ihre Zeit gekommen war.

Der Baum brauchte sie nicht alle, er warf sie ab. Er konnte sie nicht alle halten, er konnte sie nicht alle reif werden lassen.

Allein war die Frau geblieben, und einsam geworden, seit dem Abschied, der dem Für-Immer galt.

Jetzt galt es nur noch, die Reste zu würdigen, die seit einem ‚damals’, von den Erwartungen und Hoffnungen und Tätigkeiten eines Lebens, übriggeblieben waren. Sie hatte das Kind, ihr Kind und auch noch ‚sein’ Kind. Das Kind wuchs heran und sein Werden schloss die Wunde, die für immer bleiben mußte. Eine Wunde war da und eine Leere, die nie mehr gefüllt werden konnte. Eine Leere war da für das Kind, das nicht ‚Vater’ sagen konnte, wie andere es taten; die Wunde würde zur Narbe werden, leichter zu ertragen, als wenn die Mutter hätte gehen und das Kind verlassen müssen. Andere Hände wären gewesen, die das Kind aufgenommen haben würden - oder nicht. Anderer Frauen Augen hätten auf es hingesehen oder das Kind hätte auf andere Frauen hingesehen. Da mußte es eine Schuld geben, weil das Kind keinen Vater hatte. Ihre Kraft hatte nicht ausgereicht, um das Kind zu behüten und ihn, den jungen Mann, nun auf dem Weg in sein Leben zu geleiten.

Er hat es gewagt, er hat die Bahre angerührt. Er trat ihnen in den Weg, die Träger standen und alle anderen standen still.

Hinter den Klagen und dem Schmerz steht das Entsetzen vor dem Ungeheuerlichen, das aus der unbekannten Finsternis heraus eindrang in ihren Kreis des Lebens. Er ist nicht mehr bei ihnen, er ist nicht mehr unter ihnen. Er ist schon im Weggehen, er ist schon im Vergehen.

Kein Toter kehrt zurück. Wer würde ihn aufnehmen können, wer unter ihnen? Woher würde er zurückgekommen sein? Wusste Jesus, woher der junge Mensch wiederkehrte?

Niemand war jemals dort gewesen, wo es keinen Ort mehr gibt und keine Erde - und ist von dort zurückgekommen. Hätte Jesus sie nicht angehalten, es wäre weitergegangen, wie es immer weitergegangen ist mit dem Leben; sie hätten ihn begraben und wären davongegangen und das Leben wäre weitergeflossen, wie die Fluten sich schließen, wenn ein Leben versinkt, wenn ein Boot gesunken ist. Die Frau hätte getrauert, um das Kind, das der junge Mann in ihrer Erinnerung geblieben wäre. Sie hätte in dem Vergangenen gelebt, wie alle, die ähnliche Wunden tragen und sie hätte daran getragen wie an einer Schuld. Erst war der Mann gegangen, nun war das Kind gegangen. Alle gehen sie fort.

Einer hält sie auf, die Leute, die wissen, was zu tun ist.

Sie waren immer mitgegangen, niemand hatte je den Zug aufgehalten. Sie waren es gewohnt, sie trugen, was noch fortzutragen war, den Leib. Und niemand schrie: ‚Halt! Nehmt ihn nicht fort! Haltet ein, bevor es zu spät ist’. Frauen schreien so, Kinder schreien so, aber auf die hört niemand. Und wenn es jemand hört, dann ist es immer das gleiche Rufen: ‚Tut ihn nicht fort, tragt sie nicht fort, die Mutter, bitte!’ Bitten werden nicht erfüllt, Bitten wird nicht erhört. Niemand kommt, wenn ein Leben schreit, wenn ihm ein Leben fortgenommen wurde.

Viele werden schreien müssen, zu ihrer Zeit, und danach immer wieder. Stille geht von dem Toten aus und Stille legt sich über sie.

Eine Stimme spricht, deutlich: <Weine nicht!>

Die Worte entfalten sich in der Stille. Eine Stimme sagt: <Jüngling, ich sage dir: Stehe auf!> In der Stimme ist die Zuversicht, daß sie bis dahin dringt, wo nun der Andere ist.

Viele Stimmen baten: ‚Kommt wieder! Kommt zurück!’ Manche Stimme hat gesagt: ‚Steh doch auf! Wach doch auf!’ Im Herzen hat es immer gesprochen. ‚Du darfst nicht fortgehen!’ Eine Mutter stirbt, ein Vater stirbt, alle Menschen sterben.

Aber ein Kind soll nicht sterben, bevor sein Leben gelebt worden ist nach allem, was in es hineingegeben worden ist.

Es ist zu spät, um nun zu rufen. Was ihm das Lebendige ausmachte, ist schon ferne. Das Licht, das ihm hätte leuchten sollen, im Vergehen. Seine Kraft ist erloschen. Er hat nie hören können, wie sein Vater ihn rief: ‚Steh auf!’ Er konnte nie der Stimme folgen, wenn sie rief: ‚Komm!’ Die Mutter hatte nach ihm gerufen. Er hat die Mutter allein gelassen. Er kann nicht die Augen öffnen. Er ist nicht mehr der Herr im Hause seines Körpers. Er hört noch die Stimme, die nach ihm ruft. Eine Stimme ruft ihm zu: ‚Hör auf seine Stimme!’ ‚Tu, was er dir zuruft!’ ‚Steh auf!’

Heilig ist, was da geschieht.

Alles, was Menschen als Heiliges Tun verrichten, ist nur ein Gleichnis für die Wirklichkeit des Heiligen.

Für diesen Augenblick des Geschehens sind sie andere Menschen. Furcht ist über sie hergefallen. Sie sehen sich einem Propheten gegenüber. Dieser Ruf: ‚Gott hat sein Volk heimgesucht!’ bestimmt die Sätze ihres Erzählens. Einer unter ihnen hat daran gerührt, was immer hinter einem durch Entsetzen geschützten Horizont geblieben ist: Ein junger Mensch richtet sich auf und fängt an zu reden, und ist tot gewesen. In diesem Augenblick hat niemand den anderen angesehen, niemand darauf geachtet, was mit den Augenzeugen geschah.

In diesem Augenblick hat jeder damit zu tun, sich im Gleichgewicht zu halten, bemüht, dem Sog zu widerstehen, der sie zu ergreifen droht.

Vielleicht war die Stille tiefer und währte länger, als sie nachher davon zu erzählen wussten. Heimlich fragte sich mancher, was mit dem jungen Menschen weiter geschehen sein mochte. Er hat doch darauf antworten müssen, was an ihm getan worden ist. Dem wissenden Blick seiner Mitmenschen mußte er standhalten.

Vielleicht war es nur eine Geschichte, die als Kunde weitergetragen wurde ‚bis in alle umliegenden Länder.’ Aber wer waren sie, die sich solche Geschichten erzählten, sie auch weiter erzählten dem, der hören und aufschreiben wollte, damit sie nicht in Vergessenheit geriet und weil sie vom Bewahren der Lebenshäuser erzählte.

Niemand sprach darüber, was aus dem Menschen geworden ist, zu dem die Stimme sprach. Er hat die Sprache wiedergefunden. Hat er sprechen können als einer, dem Gott das Ohr öffnete, damit er sagen konnte: <Ich hin nicht ungehorsam und ich weiche nicht zurück>? (Jes 50.5)

Wenn er nicht in den Alltag zurückkehrte, dann konnte er nur nachfolgen als ein Zeuge dafür, daß Gott zu einem Müden zur rechten Zeit gesprochen hat.

Stille ist gewesen.

Hören und Sehen, alles Begehren und jede Tätigkeit war vergangen, das Leben war ausgelebt. Das vergehende Licht bewahrte noch eine Erinnerung an Gebetsworte, die seine Seele aufnahm. Der Glauben der Lebenden war mit dem Licht seines Lebens ins Dunkle abgesunken: <Du läßt mich erfahren viele und große Angst - und machst mich wieder lebendig, holst mich wieder herauf aus den Tiefen der Erde!> (Ps 71)

Hinuntergesunken in die Tiefe, hat einer nach ihm gefischt und ihn emporgezogen ans Licht, an die Luft, unter seinen Himmel zurückgeholt. Er ist aufgewacht und atmet wieder und sieht den, der selber aus seinem Beten kam.

Danach kommt alles wieder, die Forderungen des Körpers, der Hunger, die Lasten, die Pflichten, die Mutter, die Aufgabe, unter den Menschen sein Leben zu tragen. Ein anderer Baum war es, der seinen Schatten über ihn warf und ihn hatte zurückkehren lassen, oder es war derselbe Baum, der seine Früchte fallen läßt und neue Früchte tragen wird. Etwas hat er mitgebracht, um es zu bewahren: Die Wunde der Erfahrung und des Wissens ist aufgebrochen; auch wenn sie geheilt ist, bleibt Narbe und Erinnerung. Sein Herz kennt seitdem das: ‚Aber.’

<Und er gab ihn seiner Mutter> wurde schlicht gesagt. Er sah Jesus stehen und sah ihn gehen. Er hatte seine Stimme gehört.

‚Gott war unter uns!’ sagten die Leute, ‚Gott hat heimgesucht sein Volk’ sagten sie nach altem Brauch. Ihre Worte kamen schon nicht mehr aus der Wirklichkeit, die wirksam war. ‚Gott hat - ‚ sagten die Leute. Dann redeten sie, die einen: ‚Er war nicht tot’ und die anderen erwidern: ‚Er war es doch.’ ‚Was wollt ihr erlebt haben?’ Erleben ist einem anderen nicht durch das Wort mitzuteilen. Auch eine Geschichte ist nur ein Bild, eine Wirklichkeit im Wort. Die Gegenwart Jesu hat das Sehen ihrer Augen verändert, hat ihre Wahrnehmung geklärt, sodass sie für einen Augenblick ihres Lebens segnen konnten. Die Einen lobten mit dem Mund, mit dem Sprechen ihres Herzens die Andren.

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