Immer hatte die alte Frau danach gesehen, wie die Kinder kamen und ihren Weg gingen.
Ein Wort ging um aus alter Zeit, einem verlorenen Stamme zugesprochen: <Asser ist gesegnet unter den Söhnen. Er sei der Liebling seiner Brüder! Dein Alter sei wie deine Jugend!’>
Ein Lied, ein Spruch, ein Klang, der nach dem Leben griff und nach den Kindern, damit sie sammeln gingen nach Worten, nach den Liedern, nach den Bildern ihrer Welt. Sie sollten sie aufheben für die Zeit, da jemand wieder weiß, wie es war - ganz jung, aus einem alten Herkommen entsprungen, die eigenen Schritte tun auf alten Wegen, wo alles einem neu entgegenkommt - um dann nach einem langen Weg, wie ein Kind dem anderen Kind gegenüberzustehen, um nach ihm zu sehen, mit dem Wissen der vielen Jahre. Immer hatte sie danach gesehen, wie die Kinder kamen und ihren Weg gingen.
Anteil hatte sie gehabt an vielen Leben, hatte ihnen nachgedacht und, nachdem ihr gute sieben Jahre aufgestiegen waren und zu Ende gegangen waren, sah sie auf die Spuren vieler Leben hin und hatte gelernt, die werdende Gestalt zu erkennen, die daraus werden sollte. Sie hatte viele an sich vorbeiziehen lassen und gehen lassen müssen, für das Gute in ihnen und auch in das Böse hinein. Sie hatte manches behalten, von ihrem Gang, von ihren Gesichtern, von den Bildern und von ihren Träumen.
Und auch von Lasten, die sie tragen mussten. Es waren immer Geschichten geworden, wenn sie jemand sammeln und zusammenbinden konnte, kleine Geschichten der vielen Kinder, die alle ihren Weg suchen mussten und alt geworden waren unter ihren Augen. Es war wie in der großen Geschichte, von der es einmal geheißen hat: <- und so kommen sie zu dir, wie zu einem Volksauflauf, und sitzen vor dir als ‚mein Volk’ und werden deine Worte hören, aber nicht danach tun!> <Ihr Mund ist voll von Liebesweisen und danach tun sie und hinter ihrem Gewinn läuft ihr Herz her.>
Den Kreisläufen der Jahre unterliegt der Menschen Leben. Das Leben wächst auf in Fülle. Dann kommt die Ernte und die Zeit der Dürre. Das Leben ist reif geworden und sieht wieder auf die vielen kleinen Menschen und hört ihre Stimmen und fühlt die Fragen und spürt die Lasten der kleinen Hilfen und müsste noch einmal alles tun können mit dem Wissen, was dann gewachsen ist. Er müsste noch einmal mit ihr sein, der Gefährte ihrer Jugend und ihrer Liebesweisen, dessen Worte sie mit sich genommen hatte, als sie selber wie erstorben Ausschau gehalten hatte nach einer Hilfe, nach einem Retter. Sie hat ihn gehen lassen müssen, wie andere ihren Freund und Mann in einen Krieg, auf eine Wanderschaft ziehen lassen müssen, von der kein Wiederkommen ist.
‚Siehst du, auch du bist für mich gewesen wie einer, der Liebeslieder singt, der eine schöne Stimme hat und herrlich spielen kann’.
Aber es kamen die Jahre mit ihrem Fasten und die Jahre des Ausschauens nach einem, der vielleicht all das Verlorengegangene wieder suchen ginge und es sammeln könnte, das Lebendige, das für eine Zeit gelacht und gesungen hatte.
Nun, als eine alte Frau weiß sie, dass auch die sieben guten Jahre ein schweres Tragen waren am Leben, und seitdem vermochte sie zu sehen, wenn denen ein Leid drohte, die ihre Hände hielten über ein kleines Leben, das als ein kleines aufgehendes Licht zu ihnen kam und niemand wissen konnte, mit welchen Augen es blicken würde auf die Menschen. Sie sieht hin, auf die Großen, auf die Kleinen, auf die Zeichen, denen sie nie widerspricht. Sie sieht, was sie versprechen, die kleinen Lebendigen, und sagt es der Mutter und spricht zu einem Vater - und behält für sich, was schwer ist und dunkel.
Sie sieht die Leute mit dem Kind an und gewahrt die Frucht, die aus diesem Anfang kommen soll. Sie sieht das Kind an und sieht auf seinen Weg. Ihre Gebärde weist den Widerspruch ab, der jedem Zeichen gilt, das sprechen will. Denn tun, tun werden sie nicht. ‚Sie hören deine Worte, Kind, wie sie jedem zuhören, der ihnen Lieder singt und Geschichten erzählt!’ Aber alles ist danach vergessen.
Die Frau ist wieder vor ihren Augen, die über dem großen grauen Wasser tanzte und die Worte rief, denen sich so viele aus der geheiligten Tradition angeschlossen hatten. <’Singet! Hoch und erhaben ist Gott!’> (Gen 15) Es ist nur das Flüstern der Stimme, wie wenn der Wind durch die Bäume geht: <Aber wenn es eintrifft, so werden sie erkennen, daß ein Prophet unter ihnen gewesen ist!> (Hes 33.31ff)
Gedanken springen auf wie Blumen in der Wüste, wenn gerade der Regen fiel, die Bilder zeigen ein Kind, dem alle Augen leuchten sollen, wenn sie dieses Kind ansehen. Niemand soll blas werden und die Augen niederschlagen vor ihm, niemand soll sich mehr schämen oder glauben, sich verbergen zu müssen vor seinen Augen. Einen Vers möchte sie ihm mitgeben und sagt: <Er soll leben, solange die Sonne scheint und solange der Mond währt -> (Ps 72), und spricht: <die auf dich sehen, werden strahlen vor Freude!> (Ps 34)
Lächeln ist für einen Augenblick und mischt sich mit den Tränen, die geweint wurden um der Verlorenen willen. Soll dieses Kind es sein, welches das „verwüstete Erbe zuteilt“? Soll dieser Mund es sein, der sagen, den Gefangenen sagen kann: „Geht heraus! und zu jenen in der Finsternis: ‚Kommt hervor!’“? (Jes 49)
„Sie werden erkennen, dass ein Prophet unter ihnen gewesen ist“, hat die alte Frau gesagt. Und es war ein leises Lächeln wieder um ihren Mund gewesen, weil sie die Wahrheit wusste. Es trat Stille ein, als sie gegangen war, wie beiseite getreten war, um dem Kind den Weg frei zu machen „zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warten.“
Wie lange wird es dauern, bis die Mauern der alten Stadt wieder vor seinen Augen stehen, bis das Kind, das sie nun auf den Armen tragen, stehen wird an dieser Stelle? Ihre Schritte tauchen wieder ein in das Geräusch, was ihrer aller Schritte und Stimmen machen auf den Wegen in die Alltäglichkeit ihres Landes. Das Kind nahmen sie wieder mit, die Mutter, jener Vater.
Dem Werden des Kindes nachsinnend spricht sie ihm nach: ‚Jetzt sehe ich dich, Kind, sehe dich auch mit den anderen: <am Wege werden sie weiden und auf allen kahlen Höhen ihre Weide haben und sie werden weder hungern noch dürsten.> Auf deinem Wege, Kind, bei denen, die mit dir gehen, da wird keiner mehr hungern. Und niemand wird mehr den Durst haben müssen, nach dem Wenigen, was das Leben zu geben hat und auch nicht nach dem, wonach es uns heimlich hungert.’
Schmerz ist in ihrem Sehen wie auch der Schmerz in ihrem Leben war, wenn sie die schöne Stadt ansah und der vergangenen Jahre gedachte und wusste, dass alles wie gestern erst war, was doch schon so lange her ist.
Ihr ist das Wort immer noch wert, auch in der Stille, die um sie herum ist, was sie immer getröstet hat: „Ihr Alter wird wie ihre Kindheit sein“. Sie gehört auch zu den Menschen, die darauf hinwarten, dass ein Singen ist: „Mein Stern geht auf, mein Freund kommt, vom Himmel prächtig!“ „Wenn Sonne, Mond und Stern vergehn, wird dieses Licht mit einem Schein dein Himmel und dein Alles sein!“’ (EG 4o)
Ein alter Mann, eine sehr alt gewordene Frau haben sich zu denen gestellt, die von draußen kamen und etwas geben mussten, um den Sohn zu lösen aus diesem: <Das ist mein!>, was Gott gesprochen hatte und worauf Gott seine Hand gelegt hatte und wovon man sagt: <Das soll dir wie ein Zeichen auf deiner Hand sein und wie ein Merkzeichen zwischen deinen Augen!> (2. Mose 13,16)
Mit kleinen Vögeln und dem Blut kleiner Tiere ist dieses Kind nicht zu lösen von dem Spruch Gottes, der über ihm liegt.
Ein alter Mann und eine alte Frau legten ihre Erfahrungen und ihr Erkennen ein in die Schale, welche das neue Leben bereit hält. Sie haben gegeben, was sie gesammelt haben an Liebe und an Bitterkeit, an Glauben und dem Wissen aus allem.
Der Klangkörper eines Tempels schwang mit in Ton und Wort: <Nun - du bist es, mein Kind, Israel, durch den ich mich verherrlichen will!> Die Stimme sprach wahr, im Hause Gottes.
Da ist das Kind schon wieder auf dem Wege, weil auch dieses Kind einen Vater und eine Mutter haben muss, und keinen Tempel als Zuhause.
Es war auch nur die Stimme einer alten Frau, die einen alten Spruch als Segensspruch gesprochen hatte: <Er hat dich, Kind, von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet, daß Israel gesammelt werde.> Es war nur eine Geste und ein innerlich gesprochenes Wort, gegen die Dämpfung durch die Furcht dem Kinde zugesagt: <- und Heil seiest - bis an die Enden der Erde>
Die, welche am Ende des Weges sind, geben dem, der wieder am Anfang ist, die letzte Kraft ihrer Hingabe und die Worte ihrer Erwartung mit. Sie sind die Menschen, aus deren Leben es herauswuchs: <Ich glaube, auch wenn ich sage, ich wurde sehr geplagt. Ich glaube, darum rede ich. Ich sprach in meinem Zagen: Alle Menschen sind Lügner Aber ich - ich will den Kelch das Heiles nehmen und des ‚Herrn’ Namen anrufen! Ich will meine Gelübde erfüllen vor allem seinem Volk in den Vorhöfen am Hause des Herrn, in dir, Jerusalem!> (Ps 116)
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