Kapitel 2, Vers 25/1

Davon haben sie erzählt: <Ein Mensch war zu Jerusalem -> Der Hauch des Erzählens geht noch durch die Worte, der Atem des Erzählenden und die Stille, die den Worten folgt. Die Gebärden, die auf etwas hinweisen wollen und deuten, sind nicht erhalten. ‚...und siehe!’ ‚Es gab einen Menschen in Jerusalem!’ Er hatte seine Kraft nicht erschöpft auf den Wegen seiner Zeit. Die Kraft des Anfangens war ihm geblieben, mit der er den Anteil auf sich genommen hatte von allem, was die Anderen zu tragen haben würden, die zu dem Schicksal gehörten, welches als Jerusalem über ihnen stand. Alt geworden ist er, bis er zum Sehen kommt.

Noch hat Jerusalem den Klang der alten Heiligen Stadt, ein Mittelpunkt der Vielen und, wie vorher oft, auch das Ziel von Mächten, die ihre eigenen Zentren haben und Häupter und vor allem Gottheiten.

Und hier ist nur ein Mensch, von dem es hieß, dass er <fromm und gottesfürchtig> war und mit einem Warten lebte, das sich erst im Sehen erfüllen würde. Manchem Tag, der verging, muss er nachgesprochen haben: <’Nun werde ich den ‚Herrn’ nicht mehr schauen im Lande der Lebendigen - zu Ende gewebt habe ich mein Leben wie ein Weber!’> (Jes 38,12)

Es muss den Augenblick gegeben haben, da er Gewissheit erlangte, worauf sein Warten ging, nachdem ihn der Heilige Geist berührte und versprach, nicht von Menschenmund geredet, nicht aus den Lehren gezogen: Er solle <den Tod nicht sehen, er habe denn zuvor den Christ des ‚Herrn’ gesehen.’> Seitdem muss er auf die Menschen hingesehen haben, auf die vor allem, die ankamen, um die Last des Lebens und ihrer Geschichte auf sich zu nehmen und die erkennen ließen, dass keine Verweigerung unter bedrückenden Daseinsverhältnissen in ihnen war, keine Bitterkeit durch enttäuschtes Warten auf den, der doch nie kommen würde.

Es gab für ihn kein voreiliges Anheften an die Erwartungen der Vielen, die sich Gestalten suchten, die sie zu Trägern ihrer Hoffnungen machen konnten. Es war aber langsam an der Zeit, dass sich ihm zeigte, worauf ihn der Geist hingewiesen hatte.

Es hatte die Zeit gegeben, da er die Kraft aufbrachte zu glauben und es mag dann eine andere Zeit gekommen sein, wo nur noch Zurücksehen und ein Zurücksehnen nach den starken Zuversichten der Jugend blieb. Er sah wohl noch in die Gesichter von Menschen, um in ihnen die gleiche Erwartung zu erkennen, aber sie gaben seinem Warten keinen Spiegel ab. Aber das Bild war nicht ausgelöscht, das er mit sich trug und dessen Wirklichwerden er ersehnte: <Den Tod nicht sehen, er habe denn zuvor -!> Seine Seele war nicht verdorben, auch wenn er den Druck einer sich verändernden Welt spürte, die nach seiner Seele stand.

Die Welt hat so viele, die ihrem Tod begegnen müssen, ohne zuvor den „Christus“ selber gesehen zu haben und ohne vom Heiligen Geist in ihren Erwartungen bestätigt worden zu sein.

Die Seelen verdarben und verderben im Ringen um ein Überleben, in dem sich die Kraft der Seelen verbraucht, sodass ein Christus nicht mehr zu sehen ist, und, vielleicht auch, das Sehen des Todes einem vorenthalten bleibt. Er war auch nur ein Mensch unter andren und kannte Wenige, die Helfer waren, dass die „Seele nicht verdürbe“.

Auch er war nur einer von den ‚Niedrigen’ und war unten geblieben als einer, der sich sein Sehen und Erkennen bewahren wollte und sich nicht veräußerte in die Werke der Menschen.

In den alten Zeiten, saßen die Häuptlinge in der Mitte ihrer Völker und mussten jedem in die Augen sehen, auch wenn die nur auf ihren Fersen hockten. Da war der Stuhl ein Bild und die Erwartungen der Leute sind daran hängen geblieben, so dass sie nicht mehr sehen können, wie hinter dem Stuhl und dem Thron die Macht steht. Die aber greift nach dem Leben und macht sich alles dienstbar, auch den Glauben und den Wunsch zu glauben, dass hinter aller Macht der Wille Gottes steht.

Der Spruch für Dan, dem Verlorenen aus der frühen Zeit, hat bei aller Einsicht in die Vergeblichkeit der Mühen des Widerstandes doch noch einen Widerhall bei jemandem, der in die Geschicke der Völker blickt.

Vielleicht muss es immer ‚Richter’ geben, die nicht nur Recht sprechen und Berechtigungen ordnen bei allem Streit, sondern die auch Gerechte sind und eingreifen wollen, wo es um die geht, die keine Rechte haben und keine Gerechtigkeit erlangen: <Dan wird Richter sein in seinem Volk! Dan wird eine Schlange werden auf dem Wege und eine Otter auf dem Steige und das Pferd in die Fersen beißen, dass sein Reiter falle!> (1. Mose 49.16)

Immer hatte man sich zu neigen vor denen, die sich mit Glanz und Schein umgaben und vom hohen Ros auf die Gebeugten hinabblickten und zu denen man nie aufsehen darf, weil sie nur gesenkte Augen ertragen und nicht den Blick der fragenden Augen auf sich haben wollen. Die Jahre waren vergangen, in denen er zur aufbegehrenden Kraft und zur blitzartigen Klugheit der Schlange hätte finden können.

Er stand nicht groß vor seinen Leuten. Er war nie groß genug, um die Hand als ein Richter zu heben und als Gerechter die Worte für die Gerechtigkeit zu sprechen, denen dann Taten folgten.

Seine Lebenserfahrung hatte ihn nicht gelehrt, dass es vergeblich ist, nach einem Menschen Ausschau zu halten, in dem die Menschwerdung aller Menschen einen gültigen Ausdruck finden würde. Viel mutet sich einer zu, der auf einen anderen wartet und der nicht mehr glaubt, dass der Andere von denen herkommt, die so hoch über den Anderen sind und den Schein der Herrlichkeit an sich tragen. Auch von seinen Mühen und Verwirrungen hätte es heißen können: <Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich, und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz!> (Jes 49,4)

Einmal hatte es aus einem Menschen gesprochen: <Er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war. Er hat mich berufen von Mutterleibe an. Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht - mit dem Schatten hat er mich bedeckt, er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht: und er sprach zu mir: ‚Du bist mein Knecht! Israel!’> (Jes 49) Ein Leben war nicht genug gewesen, damit eine Wirkung vom Knecht Gottes ausging.

Auch sein Leben war nicht genug, er war alt geworden, er war nicht böse dabei geworden und hatte die Verheißung des Geistes nicht fallen lassen. Er wollte die Verheißung einem anderen zueignen. Er blickte der Frau entgegen mit dem Kind. Er musste das Kind ansehen und dachte auch, als gewahre er ein anderes Bild, die Worte nach vom „Licht der Völker“.

Seine Stimme dient den alten Worten: <’Es ist zu wenig, daß du mein Knecht bist, die Stimme aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen!’> Die Verheißung des Gotteswortes muß wieder zum Tragen kommen: <’Ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, daß du seiest mein Heil - bis an die Enden der Erde!’>

Dem Kind soll zuteil werden, was ihm selber zugewachsen ist; er kann dem sagen, der nur ein Kind in aller Augen ist und die Hände der andren braucht: ‚Nun haben meine Augen gesehen!’

Er will glauben, dass ihm eine Antwort von diesem Kind kommt, wenn er auch schon lange nicht mehr auf dieser Welt von ihm erreicht werden kann.

Das Kind wird nicht wissen, wie ein altgewordener Mensch auf es hinsah und es umgeben wollte mit der Liebe, die er aufgespart und aufgehoben hatte bis zu diesem Augenblick. Aber die Frucht seiner Erfahrung und seines Erkennens gab er ihm mit. Das war sein Antworten auf die Geschichte der Menschen.

Vielleicht jedoch antwortet es einmal in einem Menschen. ‚Ich habe sehen können, wie sich ein Angesicht über mich erhob und meine Augen hielt und mich segnete - und ich danke ihm dafür’.

Unter den Leiden dieser Welt und vor den Bildern, die übermächtig die Lebenskraft in sich einsaugen, können Menschen mit dem Gefühl am Leben sein, der Lebendigkeit des Lebens entfremdet zu sein.

Das ‚geschichtliche Niveau’ eines Glaubens hat teil an der Aufgabe, das Bewusstsein des Leidens zu erhalten, das auf das Erscheinen eines Heiles wartete. Er hat etwas wahres Menschliches gesehen, der den Vers machte: „Leiden sammelt unsre Sinne, dass die Seele nicht zerrinne in den Bildern dieser Welt.“ (EKG 305 Harttmann)

nach oben