<’Es war ein Mensch, der ging ->
Es klingt, als Jesus erzählt, als wüssten sie beide, wovon er spricht, von etwas, das noch immer, bei einem bestimmten Geräusch, bei einem Geruch, bei einem harmlosen Wort, mit einer Erinnerung an Verzweiflung, an Schmerz und Einsamkeit über einen hereinbrechen kann. Es klingt, als rede Jesus zu einem verborgenen Schmerz, zu einer vergessenen Wunde, als rühre er an ein Erfahren, aus dem Wissen erwuchs, dem aber wegen des Entsetzens, das alles überschwemmte, keine Frucht vergönnt war.
Als eine Erzählung kommt es an einen heran, ganz von ferne regen sich die Gefühlserinnerungen. Mit dem Erzählen tritt das Erleben fremder Menschen in einen ein: „Es war ein Mensch -!“ Es war ein Mensch, der unter die Räuber gefallen war.
Aber es waren ein Priester und ein Levit, die hinsahen und wie unter einem Zwang, der ihnen auferlegt war, vorübergehen mussten. Ein Anderer, der nur ein Samariter war, sah einen liegen und der Jammer, der um das verletzte und vergehende Leben war, dessen Kraft verrann und dessen Gemüt sich verdunkelte und in dessen Seele schon die Schatten des Todes aufstiegen, rührt an, was Jammer und Elend ist und er nähert sich ihm.
Auge in Auge stehen sich die Beiden gegenüber. Wissen begegnet Wissen, Erfahrung fragt nach Erfahrung.
‚Wer war der Nächste?’
‚Der die Barmherzigkeit tat!’ Worte sind nicht mehr notwendig. Jesus sieht ihn nur an und sagt darin doch noch: <’So gehe hin und tue desgleichen!’>
‚So gehe hin und tue das Gleiche!’ gilt nun jedem, der danach fragt, wer sein Nächster ist. Und Viele werden es sein, die unter Menschen fallen, die sie liegen lassen. Der Nächste wird nicht mehr sein, der neben einem ist oder hinter einem oder über einem. Der Nächste ist, der selber Barmherzigkeit brauchte und der ist der Nächste, der einem andren Barmherzigkeit antun kann.
Und die, die im Rufe stehen, Gott lieben zu wollen, werden gefragt werden: ‚Wer ist denn nun der Nächste gewesen dem, der einen Nächsten gebraucht hatte?’ Aber die, die vorübergingen, und nicht nach ihm sahen, die hatten gute Gründe, schnell zu vergessen, woran sie vorübergingen.
Nur Einer hielt inne, ließ sich aufhalten, half, in einem Land, in dem er nicht zu Hause war, dessen Menschen er nicht vertrauen konnte, deren Misstrauen er fühlte, weil er auch ein Kind jener Leute war, die nach den ‚früheren Bräuchen’ handelten und denen das Vorurteil galt: <Sie fürchten weder den Herrn, noch halten sie Satzungen und Rechte nach dem Gesetz und Gebot, das der Herr geboten hat!> (2. Kön 17)
Er hielt nicht Satzungen und Rechte, aber sah einen liegen und näherte sich, half dem Gefallenen und sorgte sich um ihn und rettete ihn. Aber auf seinem Weg war er aufgehalten worden, hatte Zeit verloren, sein Geld hingegeben, um einem Fremden zu helfen, der später nicht mehr wahrhaben wollte, daß er selber schon halbtot war, sondern sich eher schämte, wenn er an seinen Retter denken mußte. Einer, dem der Geruch der ‚früheren Bräuche’ anhing, der hatte ihn in seiner Not und Armseligkeit gesehen. Einer ‚der Söhne Israels’ war auf einen Fremden angewiesen. Der fremde Helfer folgte seinen ungewohnten, nach aller Ansicht verdorbenen Gesetzen und Geboten, aber hatte sich nicht davor gescheut oder gefürchtet, auf der Reise dem am Weg Zusammengeschlagenen und Zusammengebrochenen beizustehen.
In das Bild, das entstanden war, wie ein Gebäude aus Gedanken, Erinnerungen, aus den Worten des Erzählens errichtet, sind die Erlebnisbilder von vielen Menschen eingegangen.
Für sie mußte das Grauen entsetzlich gewesen sein, wenn es so weit war, daß das, was sie zerstören konnte und vernichten würde, an sie herankam, an Menschen, die die Gewalt nicht kannten und nichts ihr entgegenzusetzen hatten, wenn sie dem Entsetzlichen allein und wehrlos ausgeliefert waren, ohne einen Nächsten in ihrer Nähe zu wissen. Verborgen fragt es nach dem Nächsten, der tröstend und helfend, lebensbewahrend für einen dagewesen ist – ein Retter und Heiler, dem ein Leben lang Dank schuldet.
Ein Mensch steht vor der Aufgabe, Dank leisten zu müssen und steht vor der Aufgabe, erkennen zu sollen, daß für ihn ein Nächster da war. Ein Mensch hat einen Nächsten gebraucht. Wer so nach einen ‚Nächsten’ fragt, der muss wissen, wer es war.
Wenn ein andrer einen Nächsten brauchen wird, dann wird für ihm ein Nächster da sein.
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