Kapitel 10, Vers 21/3

Und ‚siehe!’ steht da. Es ist ein Widerspruch da, Einspruch! Ein Schriftgelehrter steht auf und versucht ihn mit seinem: ‚Was muß ich tun?’

Jesus hat von keinem Tun geredet, welches von einem Ich getan werden kann, wenn es unter einem ‚Muss’ steht. In der Hingabe an die Gegenwart der Erfüllung gibt es keine Einwendung, keinen Widerspruch, auch kein ‚Muss’.

Einer fragt; er ist ratlos, er weiß nicht weiter, er muß: ‚Bitte!’ sagen. ‚Antworte!’ Er braucht eine Antwort. Ein anderer fragt, weil er die Antwort schon weiß, die richtige Antwort. Er möchte nur beurteilen, welche Antwort ihm von dem Anderen wird. Er muß die Antwort nicht haben, er braucht die Antwort nicht. Er will nur vom Anderen hören, daß die eigene Antwort die richtige ist und er mit seiner Frage alle Fragen, die an ihn selber gehen könnten, abwehren kann, solange der Andere sich fragen lassen muß.

Langsam dringt es in den Geist des Andren ein: ‚Er hat nicht geantwortet, er hat mich gefragt.’ Vorsichtig ist der Frage begegnet worden, die sich so vertraulich an Jesus richtete. Mit der Frage: Was steht im Gesetz geschrieben? hat er sein Leben als Schriftgelehrter zugebracht. Sein Wissen und seine Klugheit müssen ihn jetzt eine Antwort finden lassen. Sie wird sein Gegenüber zwingen, darüber Auskunft zu geben, was Jesus denkt, daß er zu tun habe, um das ‚ewige Leben zu ererben’.

<’Wie liesest du?’> ermuntert ihn Jesus.

Da antwortet der Gefragte und in seinem Wiederholen des Geschriebenen klingt es, als spreche er zu seinem Gegenüber mit dem: ‚Du sollst!’ der Schrift, als beauftrage er ihn mit der Erfüllung dieses Sollens.

„Lieben von ganzem Herzen“ sagt sein Mund. Das, was geschrieben steht, wird zum Klang der Forderung, als sein Nachdenken an den Buchstaben der Schrift ihn sagen läßt: „Von ganzer Seele, von allen Kräften und deinen Nächsten wie dich selbst!“

Jesus hat darauf gewartet, daß der Andere schon lange unter einem Sollen und unter einem Muss stand, dem auch kluges Fragen und Antworten nicht mehr ausweichen kann.

‚Aber -!’ will der Mann sagen.

‚Niemand kann - !’ will seine Erfahrung einwenden.

<Tue das, so wirst du leben!> sagt die Stimme Jesu, ganz ihm alleine zugewandt. Genau das ist zu tun, obwohl keine Tätigkeit das vollbringen kann. „So wirst du leben!“ verspricht ihm Jesus, als hielte er die Gabe seines Lebens zurück, als hindere er selber sein Leben, wo ihm eben gesagt wird: ‚Tue das, so wirst du leben!’

Jetzt muß er wirklich anfangen zu fragen. Bisher hat er nie daran gezweifelt, daß er Gott liebt von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüte. Erst als er den Anderen vor sich hat und ihm mit diesem: ‚Du sollst!’ einen Auftrag zu geben scheint, indem er nur die Worte der Schrift wiederholt, geht ihm auf, daß auch seinem Gegenüber die Erfüllung dieser Auflage zugemutet ist und sein Antworten auf die Herausforderung Klarheit hat.

Jedoch alle seine Nächsten kann auch Jesus nicht lieben, wenigstens nicht so, wie sich selbst. Die Frage am Anfang sollte ihm selber Bestätigung und Rechtfertigung und Ansehen bringen, wenn der Befragte nach einer Antwort hätte suchen müssen, die nie reichen würde, um eine Aussage über das zu machen, was er zu tun haben könnte, um das ‚ewige Leben’ zu ererben.

Für ihn sind das alles Dinge, die einer erben konnte: von seinen Vätern erben, von den Vorfahren erben, aus der Überlieferung erben, aus der Geschichte des Volkes ererben.

Da wird die Frage verständlich, die immer mitgegangen war: ‚Was muß ich tun, damit ich ein Erbe sein kann? Was ist mir auferlegt, damit ich erben kann?’

Es gehört auch zum Erbe, daß man seinen Nächsten zu lieben hat, nach den Worten der Schrift. Nichts Unverständliches oder seinem Inneren Fremdes wird verlangt. Es wird nur ein Tun verlangt, über das es unter allen Menschen immer Streit und Auseinandersetzung gewesen ist und Zwiespalt blieb.

Ist er jetzt unwillig wie einer, der schon abstreitet, daß es ihm je ernst gewesen ist mit seinem Fragen und seinem Suchen nach Antworten? Oder muß er dagegen anreden, daß in ihm schon ein Wissen spricht, gegen das er sich zur Wehr setzt? Er muß sich selbst rechtfertigen! - Das ist etwas, was er ‚tun muß’. Er muß sich selbst rechtfertigen. Niemand ist mehr da, der es für ihn tun will. Gereizt setzt er sich zur Wehr: ‚Wer ist denn -!’

Dabei war die Aufgabe, den Nächsten zu lieben, von einer großen Einfachheit, solange die Menschen, die zusammengehörten, einander brauchten und über sich den gleichen Gott wussten und solange die Grenzen klar bestimmt waren, die von anderen Menschen und deren Zusammengehörigkeiten trennten und einen selber und die Nächsten vor deren Gottheiten schützten.

‚Meister!’ redet er ihn an, höflich ist er, ein feiner Spott und ein Nicht-Ernstnehmen liegt in seiner Herausforderung. Er will den Andren reizen, daß er auf einem Boden, wo er sich angeblich auskennt, eine Antwort gibt, deren Unrichtigkeit, deren Unmöglichkeit ihn als einen Außenseiter und falschen Ratgeber und irregeleiteten Hirten ausweisen muß.

Aber selbst in der herausfordernden Frage liegt ein Zögern, ein vorsichtiges Zugestehen, daß eine Erwartung noch offen, daß eines noch in Frage steht: Das Ererben der ewigen Seligkeit .

Es muß einem Nachkommen doch etwas von seinen Vorfahren zukommen, was zum Erbe werden kann, was einem von dem Erbe der Vergangenheit zugedacht ist.

Für einen Augenblick sind sie einander nahe, die Beiden, in ihrem Fragen, im Antworten, im Hören der Antwort, die der Frager selber in sich trägt. Was die Frage, was die Antwort meint, ist jedoch kein Gut, einfach nichts, was zu erben wäre.

Es kann nicht Eigentum sein und zum Besitz werden, der zu verschwenden oder zu vermehren wäre und der als Erbe an die Nachkommen weiterzugeben wäre. Aber es gibt ein Erbe, was nicht aus Eigentums- und Rechtsverhältnissen, nicht durch Land und Familie, Stand und Ansehen unter den Nächsten gegeben ist. Das Festhalten am Wissen, zu den Kindern zu gehören, denen Abraham, Isaak und Jakob Väter sind, liegt dem Fragen zugrunde und die Erwartung, daß es ein Tun geben könnte, das einem das Recht gibt, ein Erbe des ewigen Lebens zu werden.

Er sieht nicht, daß ihm ein Erbe gegenübersteht, der das alles tut, wonach er als nach einem Tun fragt. Es ist zu lesen, was im Gesetz geschrieben steht. Es ist nicht so verborgen, wie es die Gesetze und Verordnungen der Gesetzesverwalter sind mit ihren Listen und Fallen.

<Höre! Israel!> hieß es und war ein Ruf, der an alle erging. Die Worte der Anrufung dürfen nicht leichtfertig gebraucht werden, außer in den Zeiten der Not, wo Israel angerufen werden muß zu seinem Heil, oder in den Zeiten, in denen es kein Hören gibt und auch das Rufen vergeblich bleibt.

Aber im Schatz der Erinnerungen spricht es noch immer:

<...und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und du sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst - !>

Das alles haben viele bisher getan, sprachen im Stillen die alten Worte nach, hielten sie fest in ihrem Gedächtnis.

Eine Klage ist in der Frage: ‚Wer ist denn mein Nächster?’ Die Frage greift weit hinaus in das, was geschehen wird, sodass die Menschen sich fragen: ‚Wer ist denn mein Nächster?’ Diejenigen, die einen Nächsten notwendig brauchen würden, müssen durch Erleben begreifen, daß selbst im Nächsten niemand nahe ist.

Und immer, wenn das Herz danach fragt, wem einer der Nächste war, wird die Klugheit sich rechtfertigen vor dem Anspruch, der aus dem eigenen Inneren kommt: ‚Der Nächste bin ich mir selber!’ ‚Ich muß mir selber der Nächste sein - und wenn ich das tue, dann werde ich auch leben.’

Es ist dem Zweifel ausgesetzt, ob das richtige Erbe wartet und die Erfüllung des Versprechens: ‚Tue das, so wirst du leben!’ Für einen Augenblick kann es scheinen, als wollte Jesus sagen: ‚Tu, was ich auch den Andren gesagt habe, folge den Worten und du wirst sehen können, was Propheten und Könige nicht haben sehen können.’ Aber niemand folgt Worten, nur weil sie aus einem ihm fremden Tun entspringen, ihn beanspruchen wollen und deshalb Rechtfertigung vor ihnen nötig wird.

Die Frage kommt aus einer Unruhe, die schon die Verwirrung kommender Zeiten anzeigt, wo es nicht mehr sicher ist, wer denn ein Nächster ist dem, der niedergetreten wird oder verloren geht oder einen Anspruch hat auf Ansehen und Gehörtwerden.

In der neuen Gemeinsamkeit von Menschen, in deren Miteinander das Neue wirklich werden kann, das nicht mehr auf Land, Sprache, Volk, Geschichte eingeschränkt ist, soll es die Abwehr und die Rechtfertigung vor der Anfrage nicht mehr geben, die der Andre einem stellt: ‚Warum warst du nicht mein Nächster?’ ‚Warum bist du nicht zu mir gekommen und warum bist du nicht mit mir eine Strecke des Weges gegangen?

‚Warum: Nicht?’ ‚Warum: Du nicht?’ Noch das erstickte, das verdorrte, das fruchtlose Leben wird danach fragen, was aus dem Nächsten geworden ist, der an einem vorbeiging.

‚Was muß ich denn noch alles tun?’ lehnt sich der Unwille auf gegen die Aufgaben und Lasten.

‚Was muß ich noch alles tun?’ fragt sich das ungesättigte Dasein, ‚damit ich endlich ankomme, wo meine Lebendigkeit zum Vorschein kommt?’ Es muß lange gesucht werden, bis das Fragen dahin trägt, wo ihm eine gültige Antwort zukommt. Aus ihm spricht der Glaube, daß ihm als einem Erben einer langen Geschichte die Lebendigkeit zusteht, von der alle Kinder zu wissen scheinen und als ihr Erbe besitzen.

Er muß dieses: ‚So wirst du leben!’ so stehen lassen; er kann nichts richtigstellen, weil er sofort weiß, daß sein Leben der Lebendigkeit entbehrt, sonst hätte er nicht so gefragt, nicht mit der wissenden Überlegenheit eines Menschen gefragt, der alles schon getan hatte, was im Gesetz geschrieben ist und doch nicht an das Leben gerührt hat, was das ‚ewige Leben’ genannt wird. Ein Schriftgelehrter kann wissen, daß das Wissen des Gesetzes nicht genügt, wenn einer Gott lieben soll von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüte. Das Wissen muß sich in einem Tun bewähren, erst das Tun rechtfertigt das Wissen und läßt eine Frucht werden.

Er hat ‚Meister!’ gesagt. Er hat einen Meister gefunden, der wie ein Weiser, wie ein Ratgeber, wie ein Heilender zu sagen weiß: ‚Tu das und du wirst leben!’

Immer hat der Wunsch zur Hingabe an die Liebe gefragt: ‚Was muß ich tun?’ Immer hat Gott in den Geschichten der Vergangenheit den Menschen ein Sollen auferlegt. Aber selten genug hat sich seinen Menschen auch die ‚ewige Seligkeit’ geöffnet.

Sein Wissen läßt ihn sagen. ‚Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen!’

Das Wort der Schrift läßt ihn sagen:’ Und deinen Nächsten wie dich selbst.’ Aber sein Erkennen läßt ein verborgenes, ein nur mühsam im Gleichgewicht seiner Seele gehaltenes Erschrecken fragen: ‚Wen liebe ich wirklich - von ganzem Herzen, von ganzer Seele -?’

Es ist schon Verleugnung genug, wenn er sich fragt, ob er von ganzem Herzen lieben kann. Ein nachdenklicher Mensch muß sich fragen: ‚Wo ist der Mensch, der so vollkommen ist, daß er das tun könnte?’ Dem Nachdenken entringt sich die Frage: ‚Wer ist denn - wer ist denn mein Nächster?’

Ein Leben muß erfahren worden sein, bis es sich fragen kann, wer denn in Wirklichkeit sein Nächster gewesen ist, wer von allen, die einem nahe kamen. Auch ein junges Leben fragt sich in seinen Erwartungen und Enttäuschungen: ‚Wer ist denn mein Nächster?’

Aber Menschen gehen durch ihr Leben und fragen sich nicht, ob sie Gott lieben oder ihren Nächsten. Sie haben Nächste und haben Feinde, haben Menschen, die zu ihnen gehören und viele andere, die sie nichts angehen. Ihr Gemüt, ihre Kraft und ihre Seele sind von den Mühen und Aufgaben ihres Daseins in Anspruch genommen. Es kann nur ein verborgener Teil ihres Lebens sein, der noch Fragen stellt. Sie haben alle so viel zu tun, was unter einem Müssen steht, damit sie nur am Leben bleiben, daß sie nach einem Leben, was erst noch zu erben wäre und für das es auch noch was zu tun geben sollte, nicht auf die Suche gehen.

Der Gelehrte hat nicht behauptet, er wüsste nicht, wer sein Nächster ist, er hat nur das Eingeständnis umgangen, er wisse, wer sein Nächster ist. Aber das Innere muß sich davor schützen, daß nicht eine Hölle von Erinnerung, von Selbstmitleid und Selbstbezichtigung, an Verzichten, an Versäumnissen und Erkennen geöffnet wird, die das Gleichgewicht, das sein Ich trägt, ins Wanken bringen müsste. Einmal gab es den Nächsten, den kein Bitten um Vergebung und kein Dank mehr erreichen kann.

Aber er hat diese Worte geliebt und darüber nachgedacht am Morgen, am Abend, zuhause und auch unterwegs. Und er hat die Frage gestellt. Viele andere werden nie innehalten und sich so fragen wie dieser Mensch. Nicht aus Streitsucht und Widerwärtigkeit heraus spricht der Mann. Es ist Stille in seinem Fragen und auch Erwartung. Es ist wieder ein Sprechen im Bild, ein Erzählen, das Jesus ihm entwirft.

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